FAS(D) – Die Ursachen
Die Ursache von FAS(D) ist genauso klar wie vermeidbar: Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Alkohol ist ein Zellgift, dass die Plazentaschranke ohne Mühe passieren kann und dem ungeborenen Kind irreversible Schäden zufügt. Das Kind ist dem Alkohol im Mutterleib hilflos ausgeliefert und sein unausgereifter Stoffwechsel auch dann noch mit dem Abbau beschäftigt, wenn die Mutter längst wieder nüchtern ist. Dazu genügen schon sehr geringe Mengen – wie beispielsweise ein Gläschen Wein pro Woche. Denn: Bisher konnte keine Untergrenze festgelegt werden, bei der die Schädigung des Ungeborenen ausgeschlossen ist.
Aber genauer: Im ersten Trimester werden die Organe des Embryos angelegt. Trinkt die werdende Mutter in dieser Zeit Alkohol, so kann es vor allem zu typischen Gesichtsfehlbildungen, Mikrozepahlie und Fehlbildungen der inneren Organe (am häufigsten Herz und Nieren) kommen. Trinkt die Mutter im zweiten Trimester Alkohol, so wirkt sich dies negativ auf das Wachstum aus – die Kinder bleiben kleiner. Auch die Gefahr einer Fehlgeburt steigt durch den Konsum rapide an. Im dritten und letzten Trimester kann es durch die Einflüsse von Alkohol zu einer Schädigung des zentralen Nervensystems kommen. Hat eine Mutter über die gesamte Schwangerschaft hinweg Alkohol getrunken, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind am FAS – Vollbild leidet, deutlich erhöht. Das Kind ist ein Leben lang behindert!
Fatal: In einer Studie der Charité gaben im Jahr 2007 noch mehr als die Hälfte aller Schwangeren zu, sich ab und zu ein Gläschen zu „gönnen“! Wieviele Grundschulkinder also heute unter, durch Alkohol bedingten, Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten leiden, möchte man sich gar nicht vorstellen. Noch erschreckender: Trotz der massiven Aufklärungskampagnen in den vergangenen zehn Jahren und der ständigen Information durch Gynäkologen, konnte in einer weltweiten Studie, des „Centre of Addiction and Mental Health“ in Toronto im Jahr 2017 festgestellt werden, das noch immer 25% der schwangeren Frauen in Deutschland, gelegentlichen Alkholkonsum für unbedenklich halten.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Es war ein typischer Freitagabend: Alexandra saß seit 18:00 in ihrer Stammkneipe in der Bahnhofsstraße und trank gerade das 5. Glas Bier als Holger den Raum betrat. Holger war, genau wie sie selbst, arbeitslos und verbrachte die Tage vor dem Fernseher, nur darauf wartend, dass abends endlich das „Stübchen“ seine Türen öffnete. Alexandra und Holger begrüßten sich herzlich und plauderten eine Weile über die Ungerechtigkeit des Lebens, während die Striche auf ihren Bierdeckeln Stunde um Stunde mehr wurden. Als Helga, die Wirtin, das „Stübchen“ um kurz nach 1:00 schließen wollte und die beiden mit den Worten „Ich denke ihr habt genug für heute!“ schmunzelnd vor die Tür setzte, entschlossen sich Alexandra und Holger, diese Nacht nicht alleine zu verbingen und schwankten gemeinsam zu Holgers Wohnung. Zuhause angekommen, setzten sie sich auf das Sofa und schalteten den Fernseher ein. Holger fischte noch eine halbvolle Flasche Jim Beam aus dem Schrank und schenkte Alexandra großzügig ein.
In dieser Nacht wurde Melanie gezeugt.
Alexandra ahnte schon am nächsten Morgen, dass sie einen Fehler gemacht hatte – doch auch als ihre Periode ausblieb, schob sie den Gedanken an eine Schwangerschaft so weit wie möglich von sich weg. Das schwelende, flaue Gefühl im Magen ließ sich weiterhin gut mit Alkohol verdrängen. So machte Alexandra das schon seit ihrer frühen Jugend. Der Alkohol half ihr, ihr meist düsteres Leben besser zu ertragen und das „Stübchen“ war ihr ein richtiges Zuhause geworden. Erst als Helga eines Tages sagte “ Mensch Alexandra, du bekommst doch ein Baby, oder? Im wievielten Monat bist du denn?“, wurde es ihr wieder klar, was sie eigentlich längt schon wusste.
Sie rechnete kurz und stellte fest, dass sie mittlerweile schon im sechsten Monat sein musste. Zu spät für eine Abtreibung. Sie bekam Panik und doch schlich sich auch ein kurzer, warmer Gedanke an das kleine Menschlein in ihrem Bauch ein. Hin und wieder konnte sie spüren, wie es sich bewegte, gegen die Bauchwand boxte oder Schluckauf hatte. Freute sie sich etwa? Sie entschloss sich, dass Schicksal entscheiden zu lassen. Im „Stübchen“ ließ sie sich nur noch selten blicken. Helga wollte ihr keinen Alkohol mehr ausschenken – aber das erinnerte sie jedes Mal so sehr an die Schwangerschaft, dass sie es kaum aushalten konnte. Alexandra war hin und her gerissen. An einem Tag räumte sie die ganze Wohnung auf, zog frische Laken auf ihr Bett und kaufte heimlich einen Babystrampler im Drogeriemarkt – am nächsten Tag wiederum trank sie Unmengen an Wodka, billigem Wein und Bier, in der leisen Hoffnung, dass Kind in ihrem Bauch würde einfach sterben. Drei Monate später bekam sie fürchterliche Bauchschmerzen und brachte noch am selben Abend, im nahegelegenen Krankenhaus ein kleines Mädchen zur Welt: Melanie, 2400g , 46cm und 2,3% Promille.
FAS – Die Auswirkungen
Zuerst mal mag ich sagen, dass die tatsächlichen Auswirkungen und Ausprägungen bei jedem Kind anders sind und nur in der Summe zu einer Diagnose führen können. Viele „Symptome“ oder Verhaltensauffälligkeiten treten auch bei anderen Störungsbildern auf und lassen sich nicht immer eindeutig auf FAS(D) zurück führen.
So, und nun mag ich es nochmal ganz deutlich sagen: FAS(D) ist eine Behinderung! Irreversibel! Viele betroffene Kinder haben zeit ihres Lebens massive Einschränkungen in der Bewältigung ihres Alltags. Sie sind oft nicht in der Lage aus ihren Fehlern zu lernen, sich angemessen zu strukturieren oder ihre Emotionen zu kontrollieren. Die Kinder fallen auf durch extreme Wutanfälle, Lernschwierigkeiten und eine eingeschränkte, kognitive Leistungsfähigkeit.
Bei jüngeren FAS(D) – Kindern lässt sich oft beobachten, dass sie auf Reize sehr empfindich reagieren. So können manche Kinder zB nur ganz bestimmte, sehr weiche Kleidung ohne Etiketten ertragen, andere wiederum werden schon bei etwas erhöhter Zimmerlautstärke völlig überdreht oder aggressiv. Spätestens in der Schule treten dann massive Schwierigkeiten auf, da viele FAS(D)-Kinder den Anforderungen nicht gerecht werden können. So leiden 80% der betroffenen Kinder unter einer Störung des Kurzzeitgedächtnisses und haben keine Vorstellung von abstrakten Dingen wie beispielsweise Zahlen, Mengen oder Zeiten.
Zudem sind FAS-Kinder oft über alle Maßen beeinflussbar und manipulierbar, was ihnen ein eigenständiges Leben zusätzlich erschwert. Im englischen gibt es daher im Zusammenhang mit FAS(D) – Kindern den Satz: „The girls get knocked up – and the boys get locked up“. (Die Mädchen werden schwanger und die Jungs landen im Gefängnis). Tatsächlich lässt die aktuelle Studienlage den Schluss zu, dass Kinder und Jugendliche mit FASD deutlich häufiger in Konflikt mit dem Gesetz kommen, als nicht betroffene Kinder. Die eingeschränkte Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen, die geringe Frustrationstoleranz sowie die hohe, emotionale Erregbarkeit führen die Betroffenen immer wieder in schwierige, für sie nicht kontrollierbare Situationen. In ruhigen, stressfreien Momente hingegen, bereuen sie ihre Taten oft, sind zugänglich und wirken, als hätten sie das Norm- und Wertesystem verstanden. Und doch werden sie nur allzu oft wieder straffällig und lassen sich auch von negativen, äußeren Einflüssen leicht verleiten .
Pflegefamilien, die ein betroffenes Kind aufgenommen haben, erleben häufig eine schleichende, soziale Isolation, da ihnen schnell vorgeworfen wird, am Verhalten des Kindes eine Mitschuld zu tragen. Sie seien nicht konsequent genug oder viel zu streng, sie würden nicht für eine ausreichende Förderung sorgen oder zuviel „Drama“ um das Kind machen. So oder so: Das Unverständnis im Umfeld ist oft groß – genauso groß wie die Unwissenheit. Ich plädiere hier für einen offenen Umgang mit den Thema FAS. Lehrer, Erzieher, Kinderärzte oder Therapeuten haben oft ein offenes Ohr, wenn man sie direkt und persönlich mit Informationen versorgt und ihnen so nahebringt, woher das oft belastende Verhalten des Kindes kommt.
Nun noch kurz zu den körperlichen Begleiterscheinungen von FAS: Diese belasten der Alltag der Kinder und ihren Familien meistens bedeutend weniger, können aber, gerade bei der Diagnosestellung eine wichtige Rolle spielen: So werden Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Alkohol konsumiert haben, häufig mit typischen Gesichtsmerkmalen, wie beispielsweise einem verstrichenem Philtrum und einer auffällig dünnen Oberlippe , geboren. Zudem fallen sie durch Minderwuchs, unterentwickelte Muskeln und einen Mikrozephalus auf. Häufiger als bei gesunden Kindern, treten auch angeborene Herzfehler, Skelettfehlbildungen oder Nierenfunktionsstörungen auf.
Ein Beispiel aus der Praxis
Im Krankenhaus merken die Hebammen sofort, dass Alexandra unter starkem Alkoholeinfluss steht. Die kleine Melanie kommt daher sofort zur Überwachung auf die Neugeborenenintensivstation. Dem, in dieser Nacht anwesenden, Kinderarzt, fallen sofort Melanies typische Gesichtszüge, die dünnen Gliedmaßen und ihr weit unterdurchschnittliches Gewicht auf. Den Verdacht auf FAS schreibt er direkt in ihr U-Heft und informiert telefonisch das Jugendamt. Melanie scheint ansonsonsten weitgehend fit zu sein, schreit allerdings bei jeder Berühung in schrillen Tönen und gerät regelrecht in Panik, wenn die Schwestern sie hochnehmen wollen.
Am nächsten Tag stehen zwei Sachbearbeiter vom Jugendamt im Krankenhaus und entscheiden, gemeinsam mit Alexandra, dass Mutter und Kind in eine betreute Therapieeinrichtung gehen können. Nach einer Woche im Krankenhaus zieht Melanie mit ihrer Mutter als in die Mu-Ki-Wohngruppe einer Entzugsklinik. Die ersten Tage laufen ganz gut, doch Melanie schreit oft stundenlang und Alexandra fühlt sich schnell überfordert. Ihr wächst alles über den Kopf und das Verlangen nach ihrem Problemlöser „Alkohol“ wird immer stärker. So beschließt sie, in der kommenden Nacht, gemeinsam mit ihrem Baby abzuhauen. Da sie nicht in ihre allte Wohnung zurück kann, taucht sie mit Melanie auf der Straße unter. Ohne Geld bettelt sie sich am Bahnhof der nächsten, großen Stadt durch den Tag und ernährt sich und Melanie mit kalten Eintöpfen aus der Dose.
Melanies Rettung sind zwei Polizisten, die ihre Not erkennen und sie postwendend dem Jugendamt übergeben. Keine zwei Wochen später, Melanie war zwischenzeitlich im Krankenhaus untergebracht, steht fest, dass die kleine Melanie in eine Dauerpflegefamilie kommt. Vermittelt wird sie als gesundes Kind – nur im U-Heft ist noch der Hinweis auf die eigentlich schwere Erkrankung zu finden. Die Pflegefamilie ist sehr verliebt in das fünf Wochen alte, zarte Baby. Melanie lächelt mittlerweile viel und auch das Schreien ist etwas besser geworden. Den Eintrag im U-Heft kann die Familie nicht einordnen und nimmt ihn erstmal nicht allzu ernst – alles scheint in bester Ordnung.
Als mit drei Monaten plötzlich leichte Spastiken auftreten, schickt der Kinderarzt die Familie zur Physiotherapie. Fleißig macht die Pflegemutter alle dort erlernten Übungen mit dem Säugling und nach einem anstrengend Jahr, geehen die Spastiken tatsächlich zurück. Über Melanies lustigen Fortbewegungsstil wundert sich auch mit 18 Monaten niemand. Man gibt ihr die Zeit, die sie braucht und tatsächlich lernt Melanie im Alter von zwei Jahren das freie Laufen. Auch die Sprache wird besser und besser. Die Kindergartenzeit verläuft, bis auf immer wiederkehrende Ohrenentzündungen, gut. Von den Erziehern wird Melanie zwar als „kleiner Zornigel“ beschrieben, aber das wird eher als Charakterschwäche abgetan oder auf den „laschen Erziehungsstil“ der Pflegefamilie geschoben. Da sich Melanie nicht gut konzentrieren kann und scheinbar noch einige, kleinere Probleme mit dem Sprachverständnis hat, wird sie ein Jahr zurückgestellt und erst im Alter von sieben Jahren eingeschult.
Sie freut sich auf die Schule, doch schnell werden die Hausaufgaben zum täglichen Kampf mit den Pflegeeltern. Stundenlang versuchen die Eltern, Melanie bei den Arbeitsblättern zu unterstützen, aber schon am nächsten Tag, scheint das Gelernte wieder vergessen zu sein. Als Melanie dann eines Tages auch noch mit der Schere auf eine Mitschülerin losgeht, weil sie sich ungerecht behandelt und ausgeschlossen fühlt, werden Melanies Eltern zum Gespräch geladen. Niemand kann sich erklären, wie aus dem kleinen Sonnenschein ein solch „bockiges Kind“ geworden ist. Die Lehrerin berichtet, dass Melanie zahlreiche Konflikte mit den Klassenkameraden hat, den Unterricht stört, wiederholt an alles erinnnert werden muss und dem Unterricht auch inhaltlich nicht folgen kann. Sie empfiehlt, das Kind bei einer Beratungsstelle vorzustellen und wirft den Verdacht auf ADHS in den Raum.
In den folgenden Monaten wird die Diagnose vom Kinderarzt bestätigt und Melanie besucht über mehrere Jahre die unterschiedlichsten Therapien. Montags geht sie direkt nach der Schule zur Reittherapie, so soll ihre Wahrnehmung geschult werden. Dienstags kommt ein Ergotherapeut in den Hort und macht dort mit Melanie Übungen, die ihr in Konfliktsituationen helfen sollen. Mittwochs geht sie zum Klavierunterricht und Donnerstags stehen Physiotherapie und Logopädie auf dem Plan. In dieser Zeit wird Melanie immer auffälliger. Ihre Wut richtet sie regelmäßig auch gegen die Pflegefamilie und ihre agrressiven Ausbrüche werden immer heftiger. Sie erzählt häufig Lügengeschichten, beginnt kleinere Geldbeträge aus dem Portmonee des Pflegevaters zu klauen und begründet dies auf Nachfrage mit „Der Timo aus meiner Klasse hat gesagt ich soll das machen, der wünscht sich einen Gameboy!“.
Das Verhältnis zwischen Melanie und ihren Eltern wird immer belasteter, der Alltag ein ständiger Kampf. Freunde besuchen die Familie kaum noch – Melanie stört jedes Gespräch und lässt ein gemütliches Beisammensein nicht zu. Gleichzeitig geht die Familie selbst auch nur ungern zu Veranstaltungen oder nimmt Einladungen wahr. Sie können Melanie nicht alleine Zuhasue lassen und haben niemanden, der sich bereit erklärt, auf Melanie aufzupassen. Mitnehmen können sie ihr Kind aber auch nicht – bei Freunden ist Melanie kein gern gesehener Gast mehr, da sie auch dort schon mal etwas geklaut hat. Erst als Melanie 11 Jahre alt ist und der Schulwechsel ansteht, lesen die Eltern zufällig einen Bericht über FAS(D)-Kinder in der Tageszeitung. In diesem Moment fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen und sie erinnern sich an den Eintrag im U-Heft…
Wer sein Kind vor diesen verheerenden Auswirkungen schützen will, verzichtet zu 100% auf Alkohol in der Schwangerschaft!
FAS(D) bei Pflegekindern – Wie kann ich meinem Kind helfen?
Zuerst einmal, müssen wir uns bewusst machen, dass die alkoholbedingten Schäden bei FASD -Kindern nicht reversibel sind. Das bedeutet, dass unsere Kinder den Rest ihres Lebens mit den damit verbundenen, mehr oder weniger starken, Einschränkungen leben müssen. Dennoch können wir die Rahmenbedingungen so positiv beeinflussen, dass die Kinder die Möglichkeit haben, ihr ganz persönliches Potential besser auszuschöpfen.
Daher denke ich, dass man eine wirksame Hilfe, neben einer möglichst frühen Diagnosestellung, auf drei Säulen stützen sollte.
Die drei Säulen der Unterstützung
Die erste Säule ist aus meiner Sicht ganz klar, dass Spannen eines effektiven und langfristigen Hilfsnetzwerks und das Ausschöpfen, aller verfügbaren Unterstützungsleistungen. So besteht, je nach Schwere der FAS(D)-Erkrankung, die Möglichkeit, einen (Schwer-)Behindertenausweis zu beantragen. Hier werden oft die Merkzeichen H, G und B genehmigt. Damit ist ein Zugang zum (auch schulischen) Nachteilsausgleich möglich. Das Merkzeichen B, zeigt an, dass der Betroffene (in bestimmten Situationen) auf eine Begleitperson angewiesen ist , da bespielsweise eine hohe Beeinflussbarkeit oder eine gestörte Risikoeinschätzung vorliegt.
Auch das Merkzeichen H zielt auf die „Hilflosigkeit“ des Betroffenen. Dieses kann, gerad bei Kindern, genehmigt werden, wenn eine tiefgreifende Verhaltenstsörung vorliegt. So sind FAS(D) -Kinder oft nicht in der Lage, Emotionen angemessen einzuordnen oder ihre alltäglichen Aufgaben zu bewältigen. Es ist eine ständige Betreuung und Kontrolle notwendig.
Ebenfalls kann das Merkzeichen G beantragt werden, dessen Vorraussetzung ist, dass betroffenen Menschen keine 2km im öffentlichen Straßenverkehr zurücklegen können, ohne sich oder andere zu gefährden. Dies kann bei FAS(D) -Kindern schnell durch eine überdurchschnittliche Orientierungslosigkeit, mangende Gefahreneinschätzung und Vergesslichkeit gegeben sein.
Auch der Versuch, eine finanzielle Unterstützung durch eine Pflegestufe zu bekommen, gelingt , gerade bei schwer betroffenen Kindern häufig. Einige Jugendämter unterstützen besonders belastete Pflegefamilien mit einem doppelten oder gar dreifachen Satz des Pflegegeldanteils, der für die Erziehungsleistung gezahlt wird. Gerade für jugendliche oder erwachsene FAS(D) – Betroffene stehen Hilfen zur Verfügung. So kann eine dauerhafte Betreuung angeregt werden, die beispielsweise in Fragen zu Haushaltsorganisation oder Geldgeschäften unterstützt. All diese Möglichkeiten sollte niemals als Stigma, sondern vielmehr als Chancen gesehen werden.
Die zweite Säule ist ohne die erste kaum zu bewerkstelligen und obwohl ihr aus meiner Sicht eine ungeheure Wichtigkeit zu kommen sollte, ist sie doch kurz erklärt: Entlastung, Entlastung, Entlastung. Pflegeeltern mit FAS(D)-Kindern stehen ständig unter Strom und sind langfristig einer enormen Belastung ausgesetzt. Hier ist unbedingt dafür zu sorgen, dass die Eltern ihre Energiereserven wieder auftanken können. Ihr seid die wichtigsten Anker im Leben eurer Kinder – da ist eine regelmäßige Wartung (egal ob 3 Tage Wellnesshotel oder einmal die Woche Thermalbad) unerlässlich. 😉 Supervisionen, Beratungsangebote, Sport, Auszeiten mit dem Partner oder den anderen Kindern, das Pflegen sozialer Kontakte oder der Besuch einer Angehörigengruppe können eine wertvolle „Tankstelle“ sein. Nur wenn die (Pflege-)Eltern stabil, belastbar und zufrieden sind, können sie ihren Kindern langfristig eine gute Unterstützung sein. Also tut euch etwas Gutes – ohne schlechtes Gewissen. Denn es kommt direkt euern Kindern zugute.
Und nun zur dritten Säule, die ganz klar auf den Alltag abzielt. Was kann man also tun, um die aktuelle Situation zu verbessern? Da viele, für uns alltägliche Aufgaben, für FAS(D)-Kinder nur unter allergrößter Anstrengung zu bewältigen sind und sie Dinge, die sie heute konnten schon morgen scheinbar vergessen haben, helfen oft sehr klare und strukturierte Abläufe. Das Aufhängen eines Tagesplans kann den Kindern dabei helfen, wiederkehrende Aktivitäten zu erkennen und sie in der richtigen Reihenfolge auszuführen. Kurze, klare Arbeitsaufträge helfen meist mehr, als lange Erklärungen. Augenkontakt und die Unterstützung der Sprache durch zB Gebärden (GuK) sorgen häufig für ein besseres Verständnis.
Was kann ich sonst noch tun?
Da FAS(D) -Kinder schnell überreizt sind, kann ein reizarmer Rückzugsort hilfreich sein. Eine Kuschelhöhle unterm Hochbett, ein Hängesessel im Schlafzimmer oder ein kleines PopUp-Zelt im Garten sind nur einige Ideen, die in vielen Familien eine Besserung bringen konnten. Viele FAS(D) – Kinder fühlen sich im örtlichen Sportverein sehr wohl. Hier können sie sich ordentlich auspowern, die Strukturen sind häufig sehr klar und zweckmäßig und die Regeln gelten für alle gleichermaßen. Sie erleben sich als Teil der Gemeinschaft und können doch als Individuum zum Erfolg beitragen. Welche Sportart hier die richtige ist, muss jede Familie für sich selbst heraus finden. Auch wenige, ausgewählte Therapieangebote können Verhaltensauffälligkeiten oder Lernprobleme abmildern. Allerdings sollte man hier sehr darauf achten, dass die zusätzlichen Termine nicht zu einem unnötigen Stressfaktor für die Kinder werden und Aufwand und Nutzen hier für alle Beteiligten in einem guten Verhältnis stehen. Abschließend möchte ich noch sagen, dass einigen Kindern auch eine medikamentöse Unterstützung helfen kann. Diese hat allerdings oft schwere Nebenwirkungen, so dass hier ausführlich mit einem FAS(D)-erfahrenen Arzt abgewägt werden sollte.
Ein Beispiel aus der Praxis
Nachdem Melanies Eltern erkannt haben, unter was ihre Tochter leidet, geht alles ganz schnell. Sie wenden sich an eine FAS-Ambulanz und schon nach wenigen Terminen steht fest: Melanie hat das Fetale Alkohol Syndrom in seiner stärksten Ausprägung. Die Eltern erfahren, dass sie eine Pflegestufe beantragen können und erreichen auf Anhieb Pflegestufe 3 für Melanie. Mit diesen zusätzlichen, finanziellen Mitteln wird es der Familie möglich, eine regelmäßige Haushaltshilfe zu finanzieren und so für eine Entlastung aller Beteiligten zu sorgen. Zudem besuchen die Pflegeeltern ein Elterntraining, in dem sie lernen, wie sie den Alltag mit Melanie besser struktieren können.
Sie gestalten bebilderte Tagespläne und überlassen ihr nicht mehr die alleinige Verantwortung für die Ordnung in ihrem Zimmer. Sie helfen ihr beim täglichen Aufräumen und zerlegen Arbeitsaufträge in kleinste Einheiten. Statt „Mach deine Hausaufgaben!“ sagen sie nun „Melanie, hol bitte deinen Schulranzen!“ oder „Melanie, bitte schlag dein Hausaufgabenheft auf!“. Sie achten dabei darauf, dass Melanie stehts Augenkontakt hält und wirklich aufmerksam zuhört. So lässt sich Melanie viel weniger ablenken und sie muss nicht selbst entscheiden, was wohl als nächstes zu tun ist. Zudem stellen sie Melanie bei verschiedenen Fachärzten vor um Krankheiten auszuschließen, die häufig im Zusammenhang mit FAS(D) auftreten. So kommt ans Licht, dass Melanie unter einem angeborenen Herzfehler leidet, der glücklicherweise schnell behoben werden kann. Ihre körperliche Leistungsfähigkeit nimmt zu und ihre andauernde Müdigkeit verschwindet beinahe völlig.
Die zahlreichen Therapien, die Melanie während ihrer Grundschulzeit absolvieren musste, werden – bis auf die geliebte Reittherapie – abgebrochen. Melanie entspannt sich zusehends und schafft mit viel Engagement der Pflegeeltern, einen Hauptschulabschluss. Da schnell klar ist, dass Melanie mit ihren Noten auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Ausbildungsplatz finden wird, entscheiden sich die Eltern gemeinsam mit ihrer Tochter, dass sie eine Hauswirtschafts-Ausbildung im geschützten Rahmen eines Berufsbildungswerks absolivieren kann. Der Zugang hierzu wird Melanie durch ihren Behindertenausweis erleichtert.
Das Beispiel von Melanie zeigt, dass passende Hilfen und ganz besonders eine frühe Diagnose, die Chancen auf ein zufriedenes Leben deutlich erhöhen können. Gleichwohl wird auch Melanie im Erwachsenenleben einige Unterstützung bei der Alltagsbewältigung brauchen. Die Haushaltsführung wird sie, ebenso wie ihre Finanzen nur bedingt alleine erledigen können. Hier braucht es Haushaltshilfen, Betreuer, achtsame Eltern oder geeignete Wohngruppen – und doch kann Melanie vielleicht eines Tages selbstständig für ihren Lebensunterhalt sorgen und eine glückliche Partnerschaft führen.
Zum Weiterlesen
Auch diesmal möchte ich euch einige Bücher ans Herz legen, die fundierte und hilfreiche Informationen zum Thema FAS(D) bereit halten.
Den Anfang macht ein, aus meiner Sicht, sehr besonderes Buch: FAS(D) perfekt! von Reinhold Feldmann. Ein wunderbares Bilderbuch zum Thema Fetales Alkoholsyndrom, dass in kindgerechter Sprache erklärt, was FAS(D) überhaupt ist. Zugeschnitten auf Pflegefamilien und mit hilfreichen Tipps für die Eltern ist dieses Buch ideal für alle, die gerade erst die Diagnose bekommen haben und dem Kind sein „Anders sein“ wertschätzend aber sachlich erklären möchten.
Eine absolute Kaufempfehlung für alle die mit FAS(D) zu tun haben, gibt es von mir für den „FASD Koffer„. Super umfangreich und wunderbar konstruktiv ist hier alles drin, was man im Umgang mit dem Thema braucht. Besonders gut finde ich, dass der Koffer schon zahlreiche Vordrucke und Karten enthält, die alles noch anschaulicher erklären und sowohl von Fachleuten, als auch von Eltern gut genutzt werden können.
Für alle die den – in der Tat – stolzen Preis des FASD-Koffers erstmal nicht bezahlen wollen, möchte ich – ganz besonders für Pflegefamilien – das Buch „Ein Pflegekind mit FASD“ von Susanne Falke empfehlen. Ein wunderbarer Überblick in gut zu lesender Sprache. Sicher auch ein sehr hilfreiches Werk, um es mal an die Lehrerin oder den Erzieher zu verleihen. 😉
Zum Schuss noch eine Adresse, die allen Eltern von FAS(D) betroffenen Kindern bekannt sein sollte:
FASD – Deutschland Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, über das Fetale Alkoholsyndrom und allen, dem Spektrum dazugehörigen Störungen zu aufzuklären und zu informieren. Hier werden umfangreiche und aktuelle Informationen aus Wissenschaft und Forschung, aber auch ganz praktische Hilfen aus dem Alltag zahlreicher FASD-Betroffener zusammen getragen. Eine wahre Fundgrube an Ideen!
Vielleicht wollt ihr euch ja auch mal meinen Artikel zum Thema „Bindungsstörungen bei Pflegekindern“ anschauen – dann geht es HIER entlang. Ich freue mich über eure Rückmeldungen. Konstruktive Kritik, Ergänzungen oder Lob sind herzlich Willkommen.
Der Artikel unterliegt der Creative Commons Lizenz. Das heißt ihr dürft den Artikel gerne teilen und für euch (nicht kommerziell) nutzen. Dabei darf der Text nicht verändert werden und ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr meinen Namen bzw. meinen Blog immer mit angebt. 😉 Diese Artikel sollen für Betroffene hilfreich sein, sind aber auch ein riesiger Arbeitsaufwand – denkt bitte daran, dass hinter jedem Text ein Mensch sitzt, der sich die Mühe macht, das alles für andere aufzuschreiben.
Vielen Dank für diese wirklich gut erklärte, ausführliche Zusammenfassung über das Thema FASD.
Danke!
Vielen Dank!
Dein Artikel gibt einen guten, leicht lesbaren Überblick. Ich werde mich an den Literatur-Tipps versuchen.
Vielen Dank!
Vielen Dank für den ausführlichen Bericht. Anzumerken wäre vielleicht noch, dass Fas Kinder nicht ausschließlich aus Problembeziehungen entstehen. Denn durchaus kommt es auch in „gutbürgerlichen „ Partnerschaften vor, dass der Alkohol ein Gesellschaftstrunk ist. Hier ein Bierchen, nächste Woche noch ein Weinchen auf dem Geburtstag der Freundin ( man will ja nicht außen vor sein) , der Erkältungssaft . Ach da war doch noch neulich die Eröffnung des Ladens um die Ecke, …..da gab es ein Gläschen Sekt……DAS summiert sich schnell. Weiterhin gibt es tatsächlich noch (?) Ärzte, die einen gelegentlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft tolerieren. Leider.
Danke dir für den Hinweis! Tatsächlich lassen einige Studien (beispielweise Hapke, 2013) den Schluss zu, dass riskanter Alkoholkonsum in den höheren, sozialen Schichten sogar weiter verbreitet ist (30%) als in den niedrigeren Schichten (18%). Laut Bergmann 2006, konnte sogar die Aussage getroffen werden, das die Wahrscheinlichkeit des Alkoholkonsums in der Schwangerschaft mit dem formalen Bildungsgrad (Schulabschluss) ansteigt. Liebe Grüße, Meike
Allerdings sind die Kompensationsmöglichkeiten in den höheren Bildungsschichten oft besser vorhanden, als in den niedrigeren Bildungsschichten. Daher ist der Anteil der FAS-Pflegekinder aus dieser Gruppe höher als aus den besser kompensierenden, höheren Bildungsschichten. 😉