Biografiearbeit mit Pflegekindern

Biografiearbeit – Was ist das?

Bio-Graph: Das Leben aufschreiben. Schon sehr kleine Kinder beschäftigen sich mit ihrer Biografie und stellen Fragen wie „Wo komme ich her?“ oder „In wessen Bauch bin ich gewachsen?“. Sie versuchen ihre Vergangenheit zu ergründen, zu verstehen und sich selbst besser einzuordnen. Sie lernen sich kennen, entwickeln eine eigene Identität und finden so ihren Platz in der Familie, im Freundeskreis und in der Gesellschaft. Und hier wird eigentlich auch schon klar, warum Biografiearbeit bei Pflegekindern eine so große Bedeutung zukommt. Ihre Biografie ist brüchig und in vielen Fällen nicht mehr genau nachvollziehbar.

Fallbeispiel:

Lina ist 7 Jahre alt. In den ersten beiden Lebensjahren lebte sie bei ihrer leiblichen Mutter. Diese litt unter einer Borderline-Störung und konnte sich oft nicht richtig um Lina kümmern. Lina verbrachte daher viel Zeit bei ihrer Oma. Die Oma kümmerte sich rührend um die kleine Lina und versuchte stets, ihrer Tochter und ihrer Enkelin zur Seite zu stehen. Als Linas Oma plötzlich und völlig unerwartet an einem Herzinfarkt starb, zog Lina gemeinsam mit ihrer Mama in ein Mutter-Kind-Heim. Leider wurde hier schnell klar, dass die Mutter dringend medizinische Hilfe brauchte und nicht in der Lage war, ihre Tochter angemessen zu versorgen. Die Mutter zog also in eine psychiatrische Einrichtung, während Lina in eine Bereitschaftspflegefamilie aufgenommen wurde. Acht Monate später, konnte die mittlerweile knapp 3-Jährige Lina in eine Dauerpflegefamilie ziehen, in der sie bis heute lebt. Besuchskontakte mit Linas leiblicher Mutter kommen nur selten und sehr unregelmäßig zustande.

Schon im Kindergartenalter stellte Lina viele Fragen zu ihrer Herkunft und ihre Pflegeeltern antworteten stets offen und versuchten ihrem Interesse so gut wie möglich gerecht zu werden. Doch immer häufiger wussten sie einfach keine Antwort auf Linas Fragen. Als sie eines Tages bei Freunden ein Neugeborenes sahen, dass gerade gestillt wurde, fragte Lina: „Mama, hab ich als Baby auch Milch aus der Brust bekommen?“ konnte ihre Pflegeeltern keine Antwort geben. Sie wussten es einfach nicht. Lina brach in Tränen aus, wurde furchtbar wütend und war nur schwer zu beruhigen. Von diesem Tag an, beschäftigten sich Linas Pflegeeltern intensiv mit dem Thema „Biografiearbeit“.

Hier zeigt sich deutlich, dass Biografiearbeit ein fortlaufender, dynamischer Prozess ist, der zu jeder Zeit begonnen werden kann und niemals wirklich endet. Da der Identitätsentwicklung gerade in der Pubertät eine große Bedeutung zukommt, ist es sinnvoll, sich gemeinsam mit dem Pflegekind schon vor Beginn dieser intensiven Phase mit der eigenen Biografie auseinander zu setzen. In den meisten Fällen passiert dies, wie bei Lina, ganz nebenbei, da die Kinder Fragen stellen, die beantwortet werden wollen. Wie man diese Arbeit strukturieren kann,mag ich später noch genauer erläutern.

Ziele der Biografiearbeit

Zuerst einmal ist es aber wichtig zu verstehen, warum eine strukturierte Biografiearbeit sinnvoll ist und welche Möglichkeiten sich daraus ergeben. Das besondere an der Biografie vieler Pflegekinder ist nicht nur das häufige Fehlen grundlegender Informationen oder Erinnerungen, sondern auch die Differenz ihrer verschiedenen Lebens- und Erfahrungswelten. Pflegekindern haben oft gerade erst das Sitzen gelernt und sollen schon zwischen zwei Stühlen balancieren. Die Pflegefamilie unterscheidet sich naturgemäß sehr stark von der Herkunftsfamilie. Diese Unterschiede beziehen sich in den meisten Fällen auf große Teile des Wertesystems, sowie die strukturelle und finanzielle Situation. Aber auch Merkmale wie beispielsweise der kulturelle Hintergrund, die Muttersprache oder das Aussehen spielen hier für die Kinder eine große Rolle. Damit die Kindern diesen Zwiespalt in ihre eigene Biografie integrieren können und der Balanceakt zwischen den Stühlen weniger wackelig und kraftraubend wird, ist eine strukturierte Biografiearbeit notwendig.

An diesem Punkt sei darauf hingewiesen, dass Biografiearbeit wirklich als Arbeit angesehen werden muss. Die Kinder setzen sich auch mit den dunklen und vielleicht beklemmenden Erfahrungen ihrer Vergangenheit auseinander, Erinnerungen können geweckt werden und die psychische Belastung darf hier nicht außer Acht gelassen werden. Und doch: Biografiearbeit ist Ressourcenarbeit. Sie soll Brücken bauen zwischen dem gestern und dem heute, zwischen der Herkunftsfamilie und der Pflegefamilie und zwischen den gemachten Erfahrungen und den aktuellen Gefühlen. Die Hauptziele der Biografiearbeit sind also eine positive Identitätsentwicklung und die Entwicklung eines Selbstkonzepts. Im besten Fall kann eine gelungene Biografiearbeit die Stühle zwischen denen ein Pflegekind sitzt, zusammenschieben, Loyalitätskonflikte auflösen und eine Zerrissenheit und Spaltung in der Identität verhindern.

Aber nicht nur für das Pflegekind kann eine ausführliche Biografiearbeit ein Segen sein. Auch für die Pflegeeltern ist hier viel Potential versteckt. Sie haben die Chance im Prozess die Gefühlswelt ihres Kindes besser zu verstehen und können lernen, auf das Verhalten ihres Pflegekindes besser zu reagieren. Die Sicht auf das Kind kann sich grundlegend verändern und viel Frustpotential aus dem Zusammenleben nehmen.

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Grundsätze der Biografiearbeit

Klarheit

Bevor wir mit den ganz konkreten Ideen, wie eine strukturierte Biografiearbeit aussehen kann, beginnen, möchte ich noch ein paar ganz zentrale Grundsätze der Arbeit ans Herz legen. Pflegeeltern wünschen sich für ihre Pflegekinder oft nur eins: Das sie zur Ruhe kommen dürfen und mit der oft turbulenten oder gar traumatischen Vergangenheit abschließen können. Sie wollen ihre Kinder beschützen und sie vor negativen Einflüssen bewahren. Oft ist der Gedanke: „Du bist jetzt bei uns. Alles ist gut. Dir wird nichts mehr passieren. Du bist jetzt in Sicherheit. Wir gehen jetzt gemeinsam in die Zukunft!“ Das ist absolut nachvollziehbar und im Kern natürlich auch richtig. Dennoch neigen Pflegeeltern schnell dazu, die Vergangenheit zum Schutz des Kindes entweder komplett auszuklammern oder zu beschönigen. Dies bringt das Kind dann häufig nicht in Einklang mit seiner aktuellen Gefühlswelt. Das innere Chaos kann nicht beseitigt werden und es kommt zu einer Spaltung, die das Gefühl der „kaputten Identität“ noch weiter verstärken kann. Dies gilt auch für Kinder, die schon früh aus ihrer Herkunftsfamilie genommen wurden, denn auch hier ist eine frühkindliche oder vorgeburtliche Prägung entstanden, die die Kinder ihr Leben lang beeinflusst. Zudem darf auch die genetische Prägung nicht außer acht gelassen werden.

In der Biografiearbeit ist es also von existentieller Bedeutung, wahrheitsgemäß zu antworten und negative Gefühle zuzulassen. Der Grundton in der Biografiearbeit ist dennoch positiv, geprägt von Wertschätzung und ein Verharren in negativen Erinnerungen ist nicht sinnvoll.

Ein Fehlen oder Verschweigen von Informationen aus der Vergangenheit, kann außerdem dazu führen, dass das Kind die Lücken mit eigenen (positiven wie negativen) Phantasien füllt. Es können Schuldgefühle entstehen die dem Kind suggerieren, dass es vielleicht selbst Schuld ist an seiner Vergangenheit, dass es aufgrund eigener Verfehlungen nicht in seiner Herkunftsfamilie leben kann oder dass es einfach nicht „lieb“ genug ist, dass regelmäßige Besuchskontakte stattfinden können. Genau das soll durch die Biografiearbeit verhindert werden. Das innere Chaos soll geordnet und durch möglichst viele Fakten strukturiert werden. Nur so kann das äußere Chaos nachhaltig angegangen werden. Die Macht der Biografiearbeit kann es möglich machen, dass sich diese Schuldgefühle in Stolz verwandeln und dem Kind klar wird, was es alles TROTZ des holperigen Starts geschafft hat.

Freiwilligkeit

Wir hatten ja schon weiter oben geklärt, dass Biografiearbeit für alle Beteiligten wirklich anstrengend sein und mit einer psychischen Belastung einhergehen kann. In erster Linie natürlich für die Kinder, aber eben auch für die Pflegeeltern, die sich auch mit der Vergangenheit ihres Kindes auseinandersetzen und die eventuell aufkommenden, Gefühle wie beispielsweise Wut oder Trauer aushalten müssen. Daher ist es umso wichtiger, dass langfristige Biografiearbeit immer in kurzen Einheiten und auf absolut freiwilliger Basis stattfindet. Weder Kinder noch Pflegeeltern sollen überfordert werden. Hier ist auch zu bedenken, dass nicht alle Pflegefamilien die Biografiearbeit mit ihrem Kind selbst durchführen wollen oder können. Erfahrene Pädagogen, Erziehungsbeistände oder Therapeuten können diese wichtige Aufgabe ebenfalls übernehmen oder ergänzende Arbeit leisten.

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Biografiearbeit – Ganz konkret

Jetzt geht es ans Eingemachte. Wie kann Biografiearbeit ganz konkret aussehen? Was können wir als Pflegefamilie tun, welche Anteile haben die leiblichen Eltern oder Großeltern und was können Sachbearbeiter, Bereitschaftspflegefamilien oder Pädagogen im Mutter-Kind-Heim tun?

Vorbereitenden Biografiearbeit

Fangen wir mit der vorbereitenden Biografiearbeit an. In allen Institutionen wird dokumentiert. Jedes Gespräch, jede eMail und jedes Telefonat findet sich im Normalfall als Notiz in den Akten wieder und doch sind viel zu oft kaum persönliche und damit für das Pflegekind wirklich wertvolle Informationen zu finden.

Es wäre daher wünschenswert, wenn die Bedeutung der Biografiearbeit auch schon lange vor deren Beginn eine größere Beachtung geschenkt werden würde. Sachbearbeiter können mit kurzen Notizen über eine nette Beobachtung, einen Entwicklungsschritt oder eine genaue Beschreibung der Inobhutnahme einen riesigen Beitrag zum Gelingen von Biografiearbeit beitragen. Zudem kommt Sachbearbeitern die Aufgabe zu, alle Beteiligten über die Bedeutung der Biografiearbeit zu informieren und diese dazu aufzufordern, ihren Beitrag zu leisten.So können die leiblichen Eltern darum gebeten werden, einen Brief an ihre Kinder zu schreiben in dem sie sich und ihre Gefühle erklären oder schlicht die Erfahrungen aus der Schwangerschaft und die ersten Meilensteine ihres Kindes dokumentieren. Auch die gebündelte Weitergabe von Informationen bei zB einem Zuständigkeitswechsel sind von großer Bedeutung für den Erfolg der Biografiearbeit, und damit möglicherweise für die zukünftigen Entwicklungschancen des Pflegekindes. Es darf NIE vergessen werden, dass Akten eben nicht nur Akten sind, sondern in vielen Fällen über ein Menschenleben bestimmen können.

Die Bereitschaftspflegefamilie

Eine besondere Bedeutung fällt in der vorbereitenden Biografiearbeit auch den Bereitschaftspflegefamilien zu. Sie verbringen viel Zeit mit dem Kind, lernen es kennen und begleiten es intensiv auf einem Stück seines Weges. Sie haben die Möglichkeit, diese Lebenszeit mit Fotos zu dokumentieren, können kleine Anekdoten aufschreiben und bei Besuchskontakten weitere Informationen zur Herkunftsfamilie zu sammeln. Ist das Kind bei der Aufnahme schon im Kindergartenalter, können sie noch frische Erinnerungen dokumentieren und vielleicht die Namen der vorherigen Bezugspersonen aufschreiben. Namen von Erziehern, Mutter-Kind-Heim Mitarbeitern etc können auch Jahre später noch Gold wert sein

Aber auch die Dauerpflegefamilie kann eine Menge für die Vorbereitung der strukturierten Biografiearbeit tun. Hier geht es vor allem um das Sammeln und Zusammentragen aller verfügbaren Informationen. Je früher dies geschieht, desto frischer und genauer sind die Angaben und es besteht die Möglichkeit, die, bei Aufnahme des Kindes bestehenden Kontakte, noch zu nutzen, bevor diese abbrechen oder im Sand verlaufen.

Hilfreiche Informationsquellen können sein:

→ Jugendämter

→ Ehemalige Kinderärzte (Adressen finden sich oft im U-Heft)

→ Bisherige (Bereitschafts-)Pflegefamilien

→ Leibliche Eltern/ Großeltern

→ Soziale Medien wie Facebook/ Instagram wenn keine Besuchskontakte mehr stattfinden (In welchem Umfeld bewegen sich meine Eltern? Gibt es Fotos von meiner Verwandtschaft? Wer sind die engen Bezugspersonen meiner Eltern? Eventuell Namen aufschreiben, Fotos speichern)

→ Ehemalige Erzieher/innen oder Lehrer/innen

→ Betreuer aus Wohngruppen/ MuKi-Heimen oder Therapieeinrichtungen

→ Gerichte (Urteile/ Gutachten)

→ Einwohnermeldeämter

Das Anfordern von Akten ist selbstverständlich abhängig von der individuellen Rechtslage. Wer hat das Sorgerecht? Wer hat die Vormundschaft? Eventuell lohnt es sich, hier den jeweiligen Vormund anzusprechen oder, bei gutem Kontakt, die leiblichen Eltern zu bitten, die Akten für ihr Kind anzufordern. Pflegefamilien können hier die meist formlosen Anträge vorbereiten und die Eltern oder den Vormund um eine Unterschrift bitten. In einigen Fällen kann hier auch darüber nachgedacht werden, die Vormundschaft selbst zu beantragen. Ist das Pflegekind schon volljährig, kann es die Informationen natürlich auch selbst beantragen und hat ein Recht auf Herausgabe.

Biografiearbeit – Ideen und Arbeitsvorschläge

Die Möglichkeiten der Biografiearbeit sind nahezu grenzenlos. Wie immer ist klar: Für jeden gilt etwas anderes und was zur einen Familie ganz wunderbar passt, lässt sich in der anderen Familien nur schwer umsetzen. Natürlich muss darauf geachtet werden, welche Informationen überhaupt zur Verfügung stehen und welche Themen für das Kind aktuell relevant sind. Am Ende dieses Artikels werde ich euch noch weiterführende Literatur und passende Arbeitsbücher empfehlen und natürlich darf man sich auch selbst das passende Material zusammenbasteln. Dennoch möchte ich euch ein paar gängige Arbeitsbausteine vorschlagen, die unkompliziert und ohne zusätzliches Material Zuhause umgesetzt werden können.

Das „2-Ordner-Prinzip“

Für den Beginn der strukturierten Biografiearbeit empfehle ich das „Zwei-Ordner-Prinzip“. Wie der Name schon sagt, werden hier zwei Ordner angelegt, die im Prozess der Arbeit unterschiedlich gefüllt werden.

In Ordner Nummer 1 werden alle verfügbare Informationen, möglichst chronologisch, gesammelt. Entwicklungsberichte, Notizen, Erinnerungen, Fotos, Auszüge aus den sozialen Medien, Kontaktdaten etc. Dieser Ordner dient also als Ablageort für ALLE Informationen – ungeachtet dessen, ob diese relevant oder irrelevant erscheinen.

In Ordner Nummer 2 findet die eigentliche Biografiearbeit statt. Man könnte den Ordner auch „ICH-Ordner“ nennen, da hier die bearbeiteten Bausteine eingefügt werden. Bei der Arbeit mit Ordner 2 kann immer wieder gezielt auf die gesammelten Informationen aus Ordner 1 zurück gegriffen werden, ohne, dass der ICH-Ordner überfrachtet ist von Dingen, die im Prozess (noch) keine Rolle spielen. Dieser Ordner ist also das strukturierte, ganz persönliche Erinnerungsarchiv des Kindes und sollte stets vertraulich behandelt werden.

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Das Selbstportrait

Ein guter Einstieg in die gemeinsame Biografiearbeit kann ein Selbstportrait sein. Das funktioniert meist ab ca. 4- 5 Jahren ganz gut. Das Kind malt sich dabei erstmal ganz schlicht selbst. Bei älteren Kindern kann auch ein Foto mit der Kamera gemacht werden. Wichtig ist, dass das Kind sich selbst darstellt und entsprechend in Szene setzt. Egal ob gemalt oder fotografiert.

Im Anschluss kann das Bild als Gesprächsgrundlage genutzt werden. Fragen wie „Warum habe ich blonde Haare und du hast braune Haare?“, „Woher habe ich meine blauen Augen?“ oder „Habe ich die Sommersprossen vielleicht von meiner Oma?“ können hier besprochen werden. Man kann Fotos aus der Verwandtschaft zur Hilfe nehmen und vergleichen. Vielleicht kommt das lustige Lachen ja vom Opa der Pflegefamilie oder die schönen langen Wimpern von der leiblichen Mutter.

In einem weiteren Schritt kann erarbeitet werden, was das Kind an sich selbst schön findet. Je nach Alter kann hier ein Arbeitsblatt genutzt werden, dass das Kind alleine ausfüllt oder es entsteht ein Gespräch in dem die Pflegeeltern notieren, was das Kind sagt! „Ich mag meine langen, schwarzen Haare.“ Der Blick wird bewusst auf die positiven Seiten gelenkt. Diese Übung muss sich nicht nur auf Äußerlichkeiten beschränken, sondern kann auch andere Merkmale mit einbeziehen. So können beispielsweise Gewohnheiten, Talente, Marotten und Vorlieben oder einfach eine besondere Mimik ein Augenmerk sein. „Ich finde es toll, dass ich so hilfsbereit bin und so gut singen kann.“ Im Verlauf kann hier auch einen Außensicht hinzugefügt werden, die sich ebenfalls nur auf positive Eigenschaften bezieht. „Ich mag deine Sommersprossen und finde, dass du immer die lustigsten Geschichten erzählst. Deine Phantasie ist wunderbar!“ Die Grundfrage ist immer: „Welche positiven Anteile meiner Herkunftsfamilie stecken in mir, was haben sie mir mitgegeben. Welche Talente kommen vielleicht einfach aus mir selbst heraus und was habe ich vielleicht schon von meiner Pflegefamilie übernommen oder gelernt?“

Das Selbstportrait kann im Prozess mehrmals (zB jährlich) wiederholt werden, da die eigene Wahrnehmung sich immer wieder an die aktuelle Entwicklung anpasst. So findet ein Vierjähriger seine blonden Locken vielleicht super, während der gleiche Junge seine Haarpracht mit 13 lieber absrasiert, weil sie ihn aussehen lässt, wie ein Weihnachtsengel. Der Blick in die Vergangenheit kann hier auch hilfreich sein, sich selbst wieder mit mehr Wertschätzung zu betrachten. Manchmal ist er aber auch einfach nur lustig. 😉

Einen sehr niederschwelligen Einstieg in das Selbstportrait bieten übrigens Freundebücher, die schon jüngere Kinder häufig im Kindergarten untereinander austauschen. Hier werden erste, biografische Fragen zur Person gestellt, die das Kind gemeinsam mit seinen Pflegeeltern, beantworten kann. „Meine Lieblingsfarbe ist rot“ oder „Ich esse am liebsten Pizza und Tomatensalat.“

Ziel des Selbstpotraits ist immer die Stärkung des SelbstBEWUSSTseins und damit auch die Stärkung des Selbstwertgefühls.

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Der Stammbaum

Der Stammbaum erklärt sich um Grunde von selbst und macht Sinn, sobald das Kind erste Fragen zu seiner Herkunft stellt. Hier kann klar der Unterschied zwischen leiblicher Familie und Pflegefamilie (Bauch- und Herzmama etc) erklärt werden.

Zuerst kann sowohl ein Stammbaum der Herkunftsfamilie, als auch ein Stammbaum der Pflegefamilie erstellt werden. Hier bietet es sich natürlich an, Fotos – soweit vorhanden – miteinzubeziehen. Das macht den Stammbaum anschaulicher und vor allem für jüngere Kinder greifbarer.

Mit älteren Kindern kann man den Stammbaum, ebenso wie das Selbstportrait ganz wunderbar als Gesprächsgrundlage nutzen. Denkanstöße könnten dabei sein:

→ Welche Menschen spielen in meinem Leben eine große/ welche eine kleine Rolle?

→ Gibt es Menschen bei denen ich mir wünschen würde, dass sie eine kleinere Rolle spielen? Wenn ja, warum?

→ Gibt es Menschen bei denen ich mir wünschen würde, dass sie eine größere Rolle spielen würden? Wenn ja, warum?

→ Was bedeutet für mich Familie? Wie wünsche ich mir meine Familie? Kann ich mehrere Familien haben?

→ Was verbinde ich mit den einzelnen Personen aus den Stammbäumen? Positives wie Negatives. Welche Erinnerungen habe ich?

Ältere Kinder können auch jeder, für sie wichtigen Person, einen eigenen Steckbrief widmen und diese dann im ICH-Buch sammeln.

Der Zeitstrahl:

Im Zeitstrahl werden zuerst alle, für das Kind relevanten, Lebensereignisse eingetragen. Der Zeitstrahl beginnt mit der Geburt und enthält in chronologischer Reihenfolge die wichtigsten Daten. Dies können beispielsweise Umzüge, eine Inobhutnahme, Kindergartenwechseln, die erste Freundin, Todesfälle, Krankheiten, Urlaube oder jedes andere, besondere Erlebnis sein.

Später kann der Zeitstrahl natürlich jederzeit ergänzt oder ausgeschmückt werden.

Eine weitere Möglichkeit der chronologischen Zeitstrahl-Arbeit ist das Erstellen einer sogenannten Lebenskette. Hier wird jedem Ereignis eine bestimmte Perlenfarbe zugeordnet, die dann in der entsprechenden Reihenfolge auf ein Band aufgezogen werden. Beispielsweise steht rot für Geburtstage, blau für Umzüge, Gelb für Schul- oder Kindergartenwechsel, lila für Urlaube, grau für überstandene Krankheiten und grün für besonders schöne Erlebnisse. So kann der Zeitstrahl noch einmal in einer anderen Form visualisiert werden und dem Kind verdeutlichen, was es schon alles erlebt und geschafft hat.

Hat ein Kind viele Ortswechsel hinter sich, so kann auch eine Landkarte eine gute Ergänzung zum Zeitstrahl sein. Hier lassen sich alle Orte farbig markieren, an denen das Kind gelebt hat. Die Karte kann sichbar aufgehängt oder „unsichtbar“ im ICH-Ordner abgeheftet werden.

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Der Blick in die Zukunft

Die Biografiearbeit beschäftigt sich überwiegend mit der Strukturierung der Vergangenheit und dem Brückenschlag zur Gegenwart. Dennoch darf, gerade auch bei älteren Kindern, auch ein Blick in die Zukunft gewagt werden. Vielleicht hat das Kind ja schon sehr genaue Vorstellungen und mag sich mit den folgenden Fragen auseinander setzen: „Wo will ich hin?“, Was möchte ich später einmal werden?“, „Wie möchte ich sein und welche Werte sind mir dabei wichtig?“, „Was möchte ich aus meiner Pflegefamilie übernehmen und was aus meiner Herkunftsfamilie?“, „Gibt es Dinge, die ich auf jeden Fall anders machen möchte?“, „Was habe ich schon alles geschafft und was möchte ich noch alles schaffen?“, „Habe ich ein Motto, dass mich in meinem Leben begleitet?“.

Die Beschäftigung mit solchen Fragen, hilft den Kindern, eine positive Lebensperspektive zu entwickeln und die Fäden für das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Vielleicht kann das Kind auch Briefe an Personen schreiben, zu denen kein Kontakt mehr besteht. „Was wünsche ich mir vor dieser Person?“; „Was hat mich enttäuscht?“, „Was möchte ich dieser Person unbedingt noch sagen?“, „Was fühle ich, wenn ich an diese Person denke?“. Ein solcher Brief kann, muss aber nicht abgeschickt werden. Er kann genau so gut verbrannt oder im ICH-Ordner abgeheftet und später noch einmal gelesen werden. Oft wirkt schon das bloße Schreiben eines solchen Briefes Wunder.

Alle diese (beispielhaften) Bausteine der Biografiearbeit dienen dazu, die einzelnen Lebensabschnitte miteinander zu verbinden, sich an Vergangenes zu erinnern, diese Erinnerung zu verarbeiten und schließlich auch zu bewahren. So können die Ambivalenzen die viele Pflegekinder in sich Tragen aufgelöst werden. Fakten werden schwarz auf weiß dargestellt und können von der Gefühlswelt und der interpretierten Erinnerungswelt abgekoppelt werden. Auch das Trennen von negativen und positiven Aspekten der Herkunftsfamilie kann durch die Biografiearbeit ermöglicht werden. („Ja, Mama konnte sich nicht gut um dich kümmern und hat dich alleine Zuhause gelassen, weil sie zu viel Alkohol getrunken hat. Aber sie hat dich sehr geliebt und dir jeden Abend ein Schlaflied vorgesungen.“)

Natürlich kann hier nach Belieben ergänzt werden. Wer gerne eine Erinnerungskiste anlegen möchte oder jährliche Fotoalben gestaltet, trägt selbstverständlich auch damit zu einer guten Grundlage für die strukturierte Biografiearbeit bei. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt und jede Familie muss gucken, was am besten passt. Vielleicht muss bei dem einen Pflegekind ein Schwerpunkt auf die kulturelle Identität gelegt werden oder es ist hilfreich, verschiedene Orte aus der Vergangenheit zu besuchen. Ein anderes Kind bastelt sehr gerne und lässt sich über das Erstellen von bunten Kollagen an die Biografiearbeit heranführen. Wer sein Kind beobachtet und die Grundsätze der Biografiearbeit beachtet, wird schnell merken, was der Familie gut tut.

Zum Weiterlesen

Für alle die gerne mehr wissen möchten, hier noch einige Tipps und Literaturhinweise zum Weiterlesen:

Im Grunde ist „Das Erinnerungsbuch“ vom Kompetenzzentrum Pflegekinder ein vorbereiteter ICH-Ordner mit zahlreichen Arbeitsblättern zum gemeinsamen Ausfüllen. Zudem ist eine CD enthalten, die es ermöglicht weitere Arbeitsblätter auszudrucken und dem Ordner hinzuzufügen. Das beiliegende Begleitheft unterstützt Pflegeeltern und Fachkräfte bei der Arbeit mit dem Erinnerungsbuch. Ich finde, das wäre ein ganz fantastisches Geschenk für jede frisch gebackene Pflegefamilie.

Wer sich intensiver und auf wissenschaftlicher Ebene mit dem Thema Biografiearbeit mit Pflegekindern, ganz besonders im Zusammenhang mit dem Erinnerungsbuch, auseinandersetzen möchte, dem sei die Publikation „Arbeit mit dem Erinnerungsbuch – Hilfreich für Pflegekinder?“ von Heike Kirejew ans Herz gelegt. Hier wird ausführlich beschrieben, welche Wirkung die Biografiearbeit haben kann. Eine absolut empfehlenswerte und gut verständliche Lektüre für alle Fachkräfte, die mit Pflegekindern arbeiten.

Viele weitere, spannend Impulse und Übungen für die praktische Arbeit finden sich im Buch „Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen“ von Ryan/ Walker. Ein wunderbar zugängliches und gut zu lesendes Buch für den Einstieg in die familiäre Biografiearbeit.

Um die Liste nicht zu lang zu machen, möchte ich gerne zum Schluss kommen. Ein Buch darf aber aus meiner Sicht in dieser Aufzählung nicht fehlen: „Schwierige Lebensthemen für Kinder in leicht verständliche Worte fassen“ von Irmela Wiemann. Wie in all ihren (absolut lesenswerten) Büchern zum Thema Pflege- und Adoptivkinder, findet Frau Wiemann die richtigen Worte, wenn sie allen anderen fehlen. Ein ganz wunderbares Buch, dass Pflegeeltern die bestmögliche Hilfestellung gibt, wenn man wieder einmal nicht weiß, was man sagen soll.

Vielleicht wollt ihr euch ja auch mal meine Artikel zum Thema „Bindungsstörungen bei Pflegekindern“ und „FAS(D) bei Pflegekindern“ anschauen. Ich freue mich über eure Rückmeldungen. Konstruktive Kritik, Ergänzungen oder Lob sind herzlich Willkommen.

Der Artikel unterliegt der Creative Commons Lizenz. Das heißt ihr dürft den Artikel gerne teilen und für euch nutzen. Dabei darf der Text nicht verändert werden und ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr meinen Namen bzw. meinen Blog immer mit angebt. 😉 Diese Artikel sollen für Betroffene hilfreich sein, sind aber auch ein riesiger Arbeitsaufwand – denkt bitte daran, dass hinter jedem Text ein Mensch sitzt, der sich die Mühe macht, das alles für andere aufzuschreiben.

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