Emanzipation war gestern, oder?

Ich war zehn. Kletterte auf Bäume, stand auf dem Fußballplatz im Tor und schmiss mich ohne zu zögern in den Dreck. Wenn es regnete spielte ich Autoquartett oder Schach mit meinem besten Freund. Meine Klamotten wechselten zwischen pink und blau wie ich es gerade für richtig hielt und nachmittags, wenn ich alleine zu Hause war, schaute ich mit meinem jüngeren Bruder „Mila“ (ihr wisst schon…“Mila, kann fliegen, wie die Sonne über Fujiyama„…) oder „Kickers„.

Acht Jahre später machte ich Abitur. Mir stand die Welt offen. Ich konnte alles werden. Ich hatte keine Zweifel daran, keine Zweifel an mir. Hätte man mir gesagt ich könnte fliegen, ich hätte es geglaubt. Sorgen hatte ich keine. Führerschein, die erste eigene Wohnung, Beginn des Studiums. Alles lief super und alles war perfekt. Angst kannte ich nicht. Nach einer Geburtstagsparty nachts um drei noch zwei Stunden ganz allein am Bahnhof auf einen Zug warten? Ich sah kein Problem. Mein Urvertrauen in mich, meine Stärke und Unsterblichkeit ließ mir alles möglich erscheinen. Ich traf jede Entscheidung alleine und trug auch ganz alleine die Konsquenzen. Mein Leben! Ganz allein meins! Die pure Unabhängigkeit.

 

 

 

Nach den ersten Jahren im Berufsleben wurde ich schwanger. Unser Großer wurde geboren und da war sie: Die Angst. Geht es dem Kind gut. Ist es gesund? Welcher Kindergarten ist der richtige? Machen wir alles richtig? Wie wird seine Zukunft aussehen? In welcher Welt wird es später leben?

Plötzlich betreffen meine Entscheidungen nicht nur mich. Sie haben massive Konsequenzen für andere. Doch damit nicht genug. Auch die finanzielle Unabhängigkeit ist weg. Ich bin zuhause, mein Mann geht arbeiten. Die Kinder haben mich zur Hausfrau gemacht. Ich koche und bügle. Nähe (mit Begeisterung) und backe, putze und wasche die Wäsche. Ich gehe abends kaum noch weg und meine Nächte an Bahnsteigen sind Vergangenheit. Emanzipationsfalle, sagen Autorinnen bekannter Bücher dazu.

Aus meinem Beruf bin ich seit Jahren draußen – und vielleicht werde ich auch nie mehr dahin zurück kehren. Aus die Maus. Vorbei das Leben. Ewig gebunden an Haus und Herd?

Die neue Freiheit!

Ja, es gibt sie. Die Tage an denen ich hier nur noch raus will und meinen Mann furchtbar beneide. Da sehe ich plötzlich nur das was ich nicht habe und kann kaum glauben, welchen Weg mein Leben so genommen hat. Aber die sind wirklich, wirklich selten. An den meisten Tagen genieße ich genau das. Ich fühle mich so frei wie nie.

 

 

 

Heute sehe ich die Freiheit von damals anders. Das war keine Freiheit. Ich kannte mich selbst nicht und ich sah die Grenzen nicht. Weder meine Grenzen noch die Grenzen der Möglichkeiten, ja, nicht die Grenzen der Welt. Selbstüberschätzung würde ich heute sagen. 😀 Eine Fähigkeit, die einem durchaus nützlich sein kann. Wenn man vier ist und Fahrradfahren lernt zum Beispiel. Man muss glauben, dass man es schaffen kann, obwohl die Tatsachen in dem Moment dagegen sprechen und man vielleicht gerade zum zehnten Mal umgekippt ist. Oder eben mit 18. Wenn man gerade seinen Führerschein gemacht hat und in die erste eigene Wohnung zieht. Würde man all die Gefahren sehen die da lauern und sich ausmalen was da alles schief gehen könnte, man wäre gelähmt vor Angst. Super also, dass man diese riesigen Flügel der Jugend hat.

 

 

Jetzt, wo diese Flügel mit der Geburt meiner Söhne ein ganzes Stück geschrumpft sind, hat sich mein Blick auf die Welt grundlegend verändert. Ja, vieles macht mir Angst – und doch genieße ich diese neue Freiheit. Ich sehe meine Grenzen und erkenne meine ECHTEN Möglichkeiten. Ich habe mit den Kindern und dem neuen Dasein als Hausfrau SO viele davon. Ich kann mich ausprobieren und Dinge entdecken, die ich vorher nicht gesehen habe. Ich darf Menschen kennen lernen, die ich in meinem frühreren Leben NIE getroffen hätte. Ich kann mich sozial engagieren und habe keine bindenden Arbeitszeiten die das nahezu unmöglich machen. Mir stehen so viele Türen offen, so viele Erfahrungen wollen noch gemacht werden, einfach so viel LEBEN!

 

 

Ich treffe meine Entscheidungen heute bewusster. Überlege vielleicht länger. Aber ich treffe sie für mich, für uns. Ich kann nicht mehr alles werden. Ich will nicht mehr alles werden. Ich will ICH sein und bin angekommen bei mir selbst. Ich will mit niemandem mehr tauschen.

Vielleicht bin ich nicht unabhängig mit meinen neuen, kleineren Flügeln – aber wer ist das schon mit Kindern? Wer nicht alleine sein will, ist eben auch nicht unabhängig. Wer echte Bindung will, ist gebunden. Emotional. Geistig. Finanziell. Altmodisches Rollenbild? Unemanzipiert? Vielleicht – aber ich fühle mich so emanzipiert wie nie. So sehr ICH wie noch nie. So stark und so frei wie noch nie. Und ich bin unendlich dankbar für dieses Geschenk! Emanzipation ist heute!

4 Kommentare bei „Emanzipation war gestern, oder?“

  1. Iris (Du weißt schon) sagt: Antworten

    Einfach wunderbar – Dein Glück – allein geschmiedet. Emanzipation ist jetzt – denn Du bist angekommen und mit Dir und Deiner Welt im reinen. Respekt und Hochachtung für Deine Entscheidung und geh diesen Weg weiter, auch wenn es Deine Umwelt vielleicht anders sieht.

  2. So schön geschrieben… und schön, dass ich bei vielen „Flügen“ dabei sein durfte 🙂 Was wir schon damals wussten (und inbrünstig im Auto mitgesungen haben) aber heute vielleicht erst so richtig begreifen – „Freedom’s just another word for nothing left to lose“ … 😉

  3. Wunderar wie du das beschreibst ? Viele liebe Grüße Sabrina

    1. Danke dir! 🙂

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